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Motherboard: April 2025

Im praktisch selben Atemzug Ambient, Sound Art und Techno der Detroit-minimalen wie der Berlin-düster-harten Spielart in aller Tiefe verstanden zu haben, spricht für eine seltene Offenheit und ein außergewöhnlich feines Gespür für Räumlichkeit und Timing. In wenigen Jahren zu einer singulären Modularsynthesizer-Expertin zu werden, die aus einem überfüllten Genre sicher wiedererkennbar herausragen kann, spricht für beispielloses Talent. Mit diesen Anlagen hat es die Berlinerin Sibel Jacqueline Koçer alias JakoJako in kürzester Zeit vom japanischen Feinschmecker-Tape-Label Muzan Editions zu den großen Spieler:innen im Betrieb geschafft, ohne ihre spezifischen Eigenheiten zu verlieren.

Nach einigen eher deftigen EPs verzichtet ihr jüngstes Album TÉT41 (Mute, 25. April) komplett auf Beats, stellt sich aber mit rhythmisierten Field Recordings und synthetischen Tropfsteinhöhlen-Sounds in eine Tradition, wie sie etwa The Other People Place mit Lifestyles Of The Laptop Café oder The Detroit Escalator Co. auf Excerpts definiert haben. Gleichermaßen biografisch grundiert – die Feldaufnahmen sind unter anderem von einem vietnamesischen Neujahrsfest – wie retro-neo-futuristisch im Klangbild, eröffnet JakoJakos bislang ambitioniertestes und emotional tiefstes Album tatsächlich neue Perspektiven auf Altbekanntes.

Als DJ konnte die Koreanerin Yejin Jang kommerzielle Streamingformate wie den Boiler Room Seoul mit Inspiration und Emotion füllen, als Hälfte des Duos Salamanda klassischem Fourth-World-Ambient zu neuer Blüte verhelfen und als Yetsuby die halbgeraden Beats in außergalaktische Weiten warpen. Dabei noch als Stilikone zu fungieren und weit über Korea hinaus eine Verbindung zwischen Mainstream-Dancefloor und Nischenwesen herstellen zu können, ist ganz schön viel und ganz schön genial. Aber Yetsuby bekommt das sehr lässig zusammen. Auf 4EVA (Pink Oyster, 26. März) zum Beispiel mit der Über-Unter- und Zwischenlagerung von Jack, House und Electro, von fortgeschrittenen Bassmusiken, Footwork, Juke, wie von den kleinen Beats der klassischen Electronica inspiriert. Und in zeitgemäß durchlässige Pop-Avantgarde gekleidet. Das ist ebenfalls ganz schön viel und ganz schön genial.

Ganz und gar freie Musik, die doch melodisch, songhaft und vor allem emotional verbindlich sein kann, das liest sich wie ein Ding der Unmöglichkeit. Im Fall des in Los Angeles lebenden Multimusikers Dustin Wong ist es aber eine natürliche, bio-organisch ungezüchtete, quasi von selbst gewachsene Selbstverständlichkeit, das alles zusammenzubringen. Auf dem seiner verstorbenen Großmutter gewidmeten Album Gloria (Hausu Mountain, 1. April) ist diese Art intuitiver Songforschung in melancholischer Milde (und darin in absoluter Bestform) nachzuvollziehen. Obwohl er es könnte, sowohl spieltechnisch wie intellektuell, müht sich Wong keine Sekunde an Migräne-Prog oder improvisierter Überbeanspruchung ab. Es ist lediglich feine kleine freie Musik, die in aller umherschweifenden Ziellosigkeit exakt weiß, was sie will und wie sie es erreichen kann.

Fluffige Chill-Elektrik mit holzigem Klappern und leicht hippiesk angestrahlten Achtziger-Fourth-World-New-Age-Progressiv-Appeal? Vermutlich genau die Musik, die finstere Zeiten brauchen. Wolfgang Lehmann alias Voyage Futur aus Wien kann gleich mit zwei balsamischen Seelenschmeichler-Tapes das Lo-Fi-Sentiment beleben. Unseen Portal (Not Not Fun, 7. März) wie Inverted Land (Not Not Fun, 7. März) bieten freundliche Entspannung im milde experimentellen Gewand schillernder Analogsynthesizer-Electronica mit dem gewissen Extra. Vengeance des Fleurs, das nach Georgien exilierte russische Duo von Vladimir L am Synthesizer und Anastasia Mikhaleva an der Flöte, exploriert auf der gleichlautenden Debüt-Kassette Vengeance des Fleurs (Not Not Fun, 4. April) die nachkrautigen Tiefen kosmischer Elektronik in vier genialen Autobahn-langen Improvisationen.

Techno, der sich eher wie Electronica-infizierter House anhört und im Groove eher Jazz sein möchte als alles andere, hat aktuell wieder Konjunktur – bei den noch aktiven Pionieren aus Chicago und Detroit, klar, aber ebenso im Rest der Welt. Zum Beispiel bei Patioworld, das ist Benjy Toczynski aus Berkeley, Kalifornien, dessen Debüt Moonlight Beach (100% Silk, 4. April) klingt wie in Tropfsteinhöhlen gereifter Dungeon Synth, dem aber nicht Metal und Goth, sondern früher Warehouse-Rave und Chill-Outs mit Schafen über Wiesen als Inspiration dienten. Der neue Jack, das alte Acid und der immergrüne Swing kulminieren auf In Opulence (100% Silk, 4. April) von Indopan auf beglückende Weise. Indopan ist das jüngste Projekt des Liverpooler Iren Andrew Morrison. Den kennt man als The Cyclist, Buz Ludzha und unter einigen Pseudonymen mehr. Wie man einen Groove zum Hüpfen, das sonntagmorgendliche Sofa zum Softrocken kriegt, dafür hat Morrison offenbar eine Geheimformel.

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